Zukunft mit dem Coronavirus Sind wir der Herdenimmunität schon näher? Etwa zwei Drittel der Bevölkerung werden sich mit dem Coronavirus infizieren, hieß es zu Beginn des Ausbruchs. Doch die Zahl basiert auf einer wackligen Rechnung. Sind wir der Herdenimmunität schon näher? Von Irene Berres 04.07.2020, 18.29 Uhr Nicht alle Menschen haben ein gleich großes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren Nicht alle Menschen haben ein gleich großes Risiko, sich mit dem Coronavirus zu infizieren Christoph Hetzmannseder/ Getty Images Die Frage ist nur: Was lässt sich daraus ableiten für das weitere Leben mit dem Coronavirus? Und vor allem für das Ziel einer Herdenimmunität, die es der Gesellschaft ermöglichen würde, wieder zu ihrem alten Leben zurückzukehren? Quasi zeitgleich mit dem Coronavirus verbreitete sich in Deutschland Anfang März ein kritischer Wert, der immer wieder zitiert wurde: 60 bis 70 Prozent. So sagte etwa Angela Merkel bei ihrer ersten Corona-Pressekonferenz am 11. März: "Wenn das Virus da ist und noch keine Immunität der Bevölkerung gegenüber diesem Virus vorliegt, keine Impfmöglichkeiten existieren, auch noch keine Therapiemöglichkeiten, dann wird ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung - Experten gehen von 60 bis 70 Prozent aus - infiziert." Anschließend, so die Hoffnung der Experten, seien genug Menschen immun, um eine weitere Ausbreitung des Erregers zu verhindern. Die 60 bis 70 Prozent tauchten auch in den folgenden Wochen immer wieder bei Fachdiskussionen auf, RKI-Chef Lothar Wieler zitierte sie bei den morgendlichen Pressekonferenzen des Robert Koch-Instituts. Als fraglich schien lange nur, wie viel Zeit es brauchen würde, bis zwei Drittel der Bevölkerung infiziert wären. Die Ergebnisse aus Ischgl zeigen, dass selbst ein Ort unter Extrembedingungen noch weit von diesem Ziel entfernt ist. Mittlerweile wachsen jedoch auch Zweifel, dass 60 bis 70 Prozent überhaupt die richtige Zielgröße sind. Denn sie basieren auf einer Rechnung, die den Ausbruch viel zu stark vereinfacht. Das Problem hinter der Rechnung Wer die Mathematik hinter der Zahl verstehen möchte, braucht keine Formel, sondern nur ein einfaches Gedankenspiel. Dem Wert liegt die Annahme zugrunde, dass jeder mit dem Coronavirus Infizierte in einer Bevölkerung ohne Immunität und Schutzmaßnahmen im Schnitt drei weitere Menschen ansteckt. Diese entwickeln anschließend eine Immunität, die sie vor einer weiteren Infektion schützt. Haben sich zwei Drittel der Gesellschaft (66 Prozent) schon mal mit dem Virus infiziert, wären von den drei Menschen, die jeder theoretisch anstecken würde, zwei bereits immun. Ab diesem Zeitpunkt würde der Ausbruch stagnieren, im weiteren Verlauf und mit immer mehr immunen Menschen sogar abflauen. Die Rechnung klingt einleuchtend, hat aber ein Problem: Sie geht davon aus, dass sich das Virus in der Bevölkerung extrem gleichmäßig und berechenbar verteilt, ähnlich wie Teilchen in einem physikalischen Modell. Diese Annahme ist stark vereinfacht. "Die Frage dabei ist, wie gut sie die Realität der Infektionsausbreitung widerspiegelt", sagt André Karch, Epidemiologe an der Universität Münster. Seit März wurde immer klarer, dass sich das Coronavirus keineswegs so geordnet verhält, wie diese Rechnung annimmt. Während sich einige Infizierte zu Superspreadern entwickeln und einen gesamten Chor anstecken, geben andere den Erreger kaum weiter. Während einige Menschen sehr empfänglich für das Virus scheinen, scheinen sich etwa Kinder deutlich seltener anzustecken. Der Herdenimmunität bereits näher? Mathematiker haben mittlerweile in ersten Studien versucht, diese Variablen in die Berechnung der Herdenimmunität mit einzubeziehen. Das Ergebnis sind komplexe mathematische Modelle, die trotzdem noch ungenau sind. Ihre Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Schwelle zur Herdenimmunität bereits erreicht sein könnte, wenn die Hälfte der Bevölkerung immun ist - oder noch weniger. Ende Juni etwa erschien eine Studie im renommierten Fachblatt "Science". Die Forscher hatten in ihre Rechnungen mit einbezogen, dass unterschiedliche Altersgruppen und Aktivitätslevel die Verbreitung des Virus beeinflussen können. Sie berücksichtigen also, dass manche Menschen deutlich mehr Kontaktpersonen haben als andere. Je stärker die Unterschiede bei diesen Aktivitätslevel waren, desto stärker sank die errechnete Schwelle zur Herdenimmunität. Der niedrigste Wert, den ihr Rechenmodell ergab, lag bei knapp über 40 Prozent. Dieser sei jedoch immer noch zu ungenau, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie. Für eine realistischere Einschätzung müsste etwa noch die unterschiedliche Verbreitung innerhalb von Haushalten oder an Arbeitsplätzen in das Modell integriert werden, ebenso wie Unterschiede zwischen Stadt und Land. "Wenn ich eine Schätzung abgeben müsste, würde ich wahrscheinlich bei 50 Prozent landen." Marc Lipsitch, Epidemiologe Auch eine zweite Forschergruppe kommt in einer noch nicht veröffentlichten Studie zum Schluss, dass die Gesellschaft die Schwelle zur Herdenimmunität bei einer natürlichen Ausbreitung des Virus deutlich vor den 60 bis 70 Prozent erreichen könnte. Der Gedanke hinter diesen Modellen lässt sich ebenfalls vereinfacht erklären. Sie gehen davon aus, dass sich das Virus zu Beginn des Ausbruchs rasant verbreitet, allerdings vor allem unter den Menschen mit den meisten Kontakten, die das Virus auch am stärksten weitergeben. Dadurch steigt zeitgleich die Immunität in dieser Gruppe, das Virus findet immer weniger Superspreader. Um sich weiterhin in diesem Tempo ausbreiten zu können, müsste es im gleichen Maße die Menschen erreichen, die weniger empfänglich sind, etwa weniger Sozialkontakte haben. Diese Hürde ist so groß, dass sich der Ausbruch von allein verlangsamt. Verschiedene Forscher unterstützen diese Theorie. "Wenn ich eine Schätzung abgeben müsste, würde ich wahrscheinlich bei 50 Prozent landen", antwortete etwa der Harvard-Epidemiologe Marc Lipsitch im "Quanta"-Magazin auf die Frage, wann er denke, dass eine natürliche Herdenimmunität erreicht sei. Doch es gibt auch Argumente, die dagegen sprechen. Warum erst Impfungen Normalität bringen werden "Die Arbeiten gehen davon aus, dass das Kontaktverhalten sehr hierarchisch ist und Menschen mit wenigen Kontakten untereinander fast gar keinen Kontakt haben", sagt Karch. "Das ist typischerweise bei sexuell übertragbaren Krankheiten so, bei Atemwegserkrankungen ist die Situation aber wahrscheinlich komplexer." Würde sich das Virus auch innerhalb dieser Gruppe stark austauschen, etwa im Sprechzimmer von Arztpraxen oder im Supermarkt, könnte sich das sogar gegensätzlich auswirken - und den Schwellenwert auf über 60 bis 70 Prozent anheben. "Am Ende handelt es sich noch um eine akademische Diskussion mit sehr vielen Unbekannten." André Karch, Epidemiologe Die größte Unsicherheit ist jedoch noch immer eine andere: Nach wie vor weiß niemand, ob eine Infektion überhaupt komplett immun macht und wie lange dieser Schutz anhält. Bei anderen Coronaviren etwa verlieren Menschen nach Monaten oder wenigen Jahren wieder ihre Immunität. Dabei handelt es sich jedoch auch um Erreger, die sich zum Teil seit Jahrtausenden parallel zum Immunsystem des Menschen entwickeln haben und Schlupflöcher suchen konnten. "Am Ende handelt es sich noch um eine akademische Diskussion mit sehr vielen Unbekannten", sagt Karch. "So ist weiterhin nicht klar, inwiefern nachweisbare Antikörper wirklich langfristig Schutz vor einer Infektion bieten und ob Menschen mit Kontakt zum Virus aber ohne Antikörpernachweis wirklich nicht geschützt sind." Eines aber lasse sich bereits ablesen. "Ohne einen effektiven Impfstoff ist schwer vorstellbar, dass sich in naher Zukunft über verschiedene Länder hinweg Herdenimmunität einstellt." Selbst von 50 Prozent sind alle Länder trotz ersten großen Ausbrüchen und Tausenden Todesfällen noch weit entfernt. Trotzdem hinterlässt die Diskussion auch eine gute Nachricht: Dass sich ohne Impfstoff zwei Drittel der Bevölkerung infizieren werden, wie anfangs gedacht, ist keinesfalls sicher. Ischgl, das Extremdorf, könnte bei einem nächsten Ausbruch ohne Urlauber sogar schon deutlich glimpflicher davonkommen. -------------